Es war eine weite Reise in wichtiger Mission. Einmal vom nördlichen Hamburger Stadtrand in die Segeberger Heide und zurück. Allein auf dem 32 km langen Hinweg überquerte der zehnjährige Rothirsch Anfang September in zwei Nächten 14 zum Teil stark befahrene Straßen und schlich sich durch teilweise dicht besiedelte Gebiete. Erst seit wenigen Tagen ist er wieder zu Hause im Hamburger Naturschutzgebiet Duvenstedter Brook. Rothirsche legen zur Paarungszeit oft weite Strecken zurück und transportieren dabei ihre Gene von einer Teilpopulation in die nächste. Mit ihrer Mobilität zur Paarungszeit sichern sie die genetische Vielfalt und die langfristige Existenz ihrer Art. Das Besondere: erstmals konnte eine solche Wanderung im Norden genau erfasst werden.
Die Besenderung des Rothirsches – in der Region „der Bargfelder“ genannt - ist ein gemeinsames Projekt von Stiftung Naturschutz Schleswig-Holstein, Landesjagverband Schleswig-Holstein sowie den Schleswig-Holsteinischen Landesforsten und ein Beispiel für die gute Kooperation. Abgesehen von seinem imposanten Geweih ist er an einer kahlen Stelle im Fell auf der rechten Schulter gut erkennbar und wurde bereits in den Vorjahren zur Brunftzeit im Herbst in der Segeberger Heide beobachtet. Dass der Hirsch nun einen GPS-Sender trägt, ist eine kleine Sensation. „Als der Biologe und Wildtierfotograf Gernot Maaß und der Jagdaufseher Marco Klose mit der Idee der Besenderung auf mich zu gekommen sind, war mir sofort klar, dass dies eine große Chance ist, den Wanderweg des „Bargfelders“ zu dokumentieren und auf das Problem der zunehmenden Lebensraumzerschneidung hinzuweisen. Wir wussten aber auch, dass es fast unmöglich ist, einen ganz bestimmten Hirsch zu narkotisieren und zu besendern,“ berichtet der Wildbiologe Frank Zabel, der Initiator des Projektes vom Landesjagdverband Schleswig-Holstein.
Denn nach perfekter Vorbereitung durch örtliche Unterstützer war es im Juli gelungen, den „Bargfelder“ mit einem GPS-Sender auszustatten. „Wir haben mehrere Abende auf der Lauer gelegen, um den Hirsch mit einem Narkosepfeil zu betäuben. Ein langwieriges und schwieriges Unterfangen. Nicht selten gewinnt dabei der Hirsch. Denn: dem langsamen Betäubungsgeschoss weichen die Tiere problemlos aus,“ erklärt Marcus Meißner, Rothirsch-Experte der Stiftung Naturschutz Schleswig-Holstein und verantwortlich für die Besenderung. „Darüber hinaus sollte man nicht weiter als 20 Meter von dem Tier entfernt sein und der Hirsch muss lange genug stehen bleiben, bis der Pfeil ankommt.“ Vom Schuss bis zur Wirkung der Narkose dauert es mehrere Minuten. Gefunden hat den narkotisierten Hirsch zielsicher Marcel Zickermann, Forstwirt und Jagdexperte von den Schleswig-Holsteinischen Landesforsten mit einem für solche Aufgaben speziell ausgebildeten Jagdhund. Seit der Besenderung wird jede Stunde die Position des Tieres ermittelt. „Es wäre schön, wenn der Sender ein weiteres Jahr durchhält,“ hofft Meißner, „danach können wir das Halsband auf Knopfdruck wieder ablösen“.
Wandert er oder wandert er nicht? – war seit der Besenderung die große Frage. Am 31. August war es dann endlich soweit und „der Bargfelder“ brach auf zu seiner großen Wanderung nach Norden. Gut dreieinhalb Wochen hat er insgesamt in der Segeberger Heide verbracht, bis er dann am 27. September innerhalb von nur 12 Stunden zurückgekehrt ist. „Es ist natürlich eine besondere Freude, den Hirsch jedes Mal wieder wohlbehalten am Ziel seiner Wanderung zu beobachten – jetzt kennen wir nun endlich auch seine Route“, freut sich Wildtierfotograf Gernot Maaß, der die kahle Schulter als Erkennungsmal ausmachte.
Die Wanderachsen der Rothirsche zwischen den beiden Gebieten sind seit vielen Jahren bekannt und waren Gegenstand mehrerer Forschungsarbeiten. Mit Hilfe der Telemetrie ist es jetzt erstmals gelungen, die bisherigen Modell-Annahmen mit Bewegungsdaten zu belegen. Das Problem: derartige Wanderungen werden immer seltener und die Möglichkeiten dazu schwinden. Das macht nicht nur den Genaustausch der Hirsche schwieriger. Wildtier-Korridore sind die Lebensadern der Artenvielfalt und verbinden Ökosysteme miteinander. So trägt z.B. jeder Rothirsch eine Vielzahl von Pflanzensamen mit sich – entweder im Verdauungstrakt oder im Fell – und verteilt sie über weite Strecken. Werden diese Verbindungen unterbrochen, hat das langfristig gravierende Folgen – sowohl für die Lebensgemeinschaften als auch für den Genpool einzelner Arten. „Ein funktionierender genetischer Austausch ist in Schleswig-Holstein gerade für die großen, weit verteilten Waldgebiete wie z.B. den Segeberger Forst und ihren Rotwildbestand von besonderer Bedeutung,“ erklärt Jan Meyer-Hamme, zuständig für das Sachgebiet Jagd bei den Schleswig-Holsteinischen Landesforsten. „Mehrere genetische Untersuchungen bestätigen, dass die Rotwildvorkommen in Schleswig-Holstein bereits ein gravierendes Problem haben und auf die Wiederbelebung des Genaustausch angewiesen sind“, ergänzt der Wildbiologe Frank Zabel vom Landesjagdverband Schleswig-Holstein. Was zum Schutz der Verbundachsen getan werden muss, ist unstrittig: Durch Autobahnen oder Bundesstraßen zerschnittene Wildtier-Korridore müssen durch Grünbrücken querbar gemacht werden, auf ganzer Länge durchlässig bleiben und ausreichend Trittsteine als Ruheräume beinhalten. Nicht umsonst war das einzige Etappenziel des „Bargfelders“ auf seiner Wanderung am 1. September das Stiftungsgebiet Nienwohlder Moor.
Der Rothirsch ist mit seinen bis zu 300 kg Lebendgewicht der größte Vertreter einer ganzen Reihe von Arten, die auf funktionierende Verbindungen zwischen den Lebensräumen angewiesen sind. „Unser Wanderhirsch verdeutlicht nochmal die Bedeutung von Wildtier-Korridoren und miteinander verbundenen Ruhezonen in der Landschaft,“ erklärt Marcus Meißner von der Stiftung Naturschutz Schleswig-Holstein und Frank Zabel vom Landesjagdverband ergänzt: „Für die Rothirsch-Vorkommen in Schleswig-Holstein ist die Funktionsfähigkeit der Wildtier-Korridore eine Existenzfrage“.